Neurodivergent: Wie Anderssein im Job zur Stärke wird

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Wir sind alle maximal individuell. Und werden mit unseren Besonderheiten, Bedürfnissen und Unsicherheiten gesehen. Zumindest schallt uns das in jedem Feed, beim Vorstellungsgespräch oder in der Kaffeeküche konstant entgegen. Nur ist die Arbeitsrealität tatsächlich so rosig, wie wir denken? Insbesondere, wenn es um den Umgang mit Neurodiversität und neurodivergenten Menschen geht?

Denn die sah lange Zeit definitiv anders aus. Arbeitnehmer:innen mussten vor allem funktionieren - und zwar so, wie es das Unternehmen erwartet. Burnout? Überlastung? Ängste? Waren vor allem Schimpfworte für vermeintlich "schwache" Mitarbeitende. Zumindest das hat sich mittlerweile geändert.

Auch Diversity ist in vielen Unternehmen längst kein Fremdwort mehr und wird offen gezeigt und gelebt. Was allerdings (zu) häufig noch fehlt: das Bewusstsein, dass nicht alle Unterschiede klar sichtbar sind - schließlich trägt niemand ein Label mit ADHS oder Autismus morgens mit ins Büro.

Wir zeigen dir, was Neurodiversität im Arbeitsalltag konkret bedeutet und wie neurodivergente Personen und Arbeitgeber:innen von diesen besonderen Persönlichkeitsmerkmalen profitieren.

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Neurodivergent: Definition und Bedeutung

Was ist eine neurodivergente Person?

Fangen wir ganz am Anfang an. Der Begriff neurodivergent beschreibt Menschen, deren Gehirn anders funktioniert als das der sogenannten neurotypischen Mehrheit. Das bedeutet, dass neurodivergente Menschen anders denken, lernen und die Welt wahrnehmen. Statt eine "Störung" oder "Krankheit" zu sein, ist Neurodivergenz eher eine andere Art des Seins – quasi ein Remix der Gehirnfunktion, der uns daran erinnert, dass das Leben in Stereo viel interessanter ist als in Mono.

Falls du dich gerade fragst: "Bin ich auch neurodivergent?" Neurodivergent zu sein bedeutet, dass dein Gehirn auf eine Art funktioniert, die nicht unbedingt der allgemeinen Norm entspricht. Du packst dein Handy beim Zähneputzen versehentlich ins Gewürzregal? Ordnest deinen Schreibtisch gern maximal symmetrisch? Das könnte ein kleiner Hinweis sein.

Viele Menschen entdecken manchmal Merkmale an sich, die auf Neurodivergenz hindeuten und das ist völlig in Ordnung. Der Punkt ist, neurodivergent zu sein, bedeutet einfach, dass dein Gehirn Dinge auf eine Art macht, die nicht unbedingt in die allgemeine Schablone passt.

Begriffsabgrenzung: Neurodiversität vs. Neurodivergenz

Jetzt kommt der kleine, feine Unterschied. Neurodiversität ist ein Konzept, das die Vielfalt neurologischer Entwicklungen beschreibt – also eine Art "buntes Gehirn-Panorama" der Menschheit. Es umfasst sowohl neurotypische als auch neurodivergente Menschen. Neurodivergenz hingegen beschreibt speziell diejenigen, deren neurologische Entwicklung von der neurotypischen Norm abweicht.

Stell dir Neurodiversität als eine große After-Work-Party vor, zu der das gesamte Unternehmen eingeladen ist. Es gibt neurotypische Leute, die sich an die Playlist halten und es gibt die neurodivergenten Leute, die mit einer Trommel und einem Megafon auftauchen. Beides ist willkommen – es trägt einfach auf unterschiedliche Weise zum Event bei.

Formen der Neurodivergenz

Autismus und ADHS als neurodivergente Bedingungen

Zwei der bekanntesten Vertreter innerhalb der Neurodivergenz sind Autismus und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Menschen mit Autismus nehmen die Welt oft intensiver wahr – sie bemerken vielleicht Details, die andere übersehen und denken auf eine oft sehr analytische, strukturelle Weise. Sie sind die, die selbst inmitten des Chaos den klaren Pfad finden können. Nur viele andere Dinge eben dann komplett ausblenden.

Menschen mit ADHS haben oft mehrere Gedanken gleichzeitig und bringen oft eine beeindruckende Energie mit. Der Fokus kann dann manchmal schwierig sein, aber wenn sie etwas finden, das ihre Begeisterung entfacht, sind sie kaum zu stoppen.

Andere häufige neurodivergente Merkmale

Natürlich sind Autismus und ADHS nicht die einzigen Mitglieder dieses Clubs. Dyslexie (Leseschwierigkeiten), Dyspraxie (Bewegungskoordination) und Tourette-Syndrom sind ebenfalls Teil der neurodivergenten Merkmal-Familie. Sie alle bringen ihre eigenen Herausforderungen mit sich, aber auch einzigartige Stärken.

Menschen mit Dyslexie können zum Beispiel oft sehr kreativ und visuell denken – wie ein Sprach-Picasso. Dyspraxie-Betroffene haben vielleicht Schwierigkeiten mit der Feinmotorik, sind aber oft in der Lage, große Zusammenhänge viel besser zu verstehen als andere.

Neurodiversität und Studium

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Schon in der Schule wird das Anderssein oft nicht gerade gefeiert – besonders wenn es darum geht, stillzusitzen und Algebraaufgaben zu lösen, die einen an der tatsächlichen Relevanz zweifeln lassen. Für neurodivergente Menschen kann das Studium eine besondere Herausforderung sein. Der klassische Frontalunterricht, das ständige Sitzenbleiben und das endlose Wiederholen von Dingen, die eigentlich längst klar sind, können ziemlich anstrengend sein.

Aber keine Herausforderung ohne Chancen. Wenn neurodivergente Studierende individuell gefördert werden, können sie ihre Stärken oft auf beeindruckende Weise entfalten. Ein Bildungssystem, das Flexibilität und kreatives Lernen zulässt, kann hier Wunder bewirken.

Unterstützung und individuelle Förderung

Das Stichwort hier ist Inklusion. Neurodivergente Studierende brauchen eine Umgebung, in der sie sich akzeptiert und verstanden fühlen. Das bedeutet in der Praxis, dass Dozierende geschult werden müssen, neurodivergente Bedingungen zu erkennen und darauf einzugehen. Zusätzlich können spezielle Hilfsmittel, wie zum Beispiel visuelle Zeitpläne oder Techniken zur Förderung der Konzentration, den Alltag erleichtern.

Förderung heißt auch, das System an die Bedürfnisse der Studierenden anzupasse - nicht umgekehrt. Wenn du weißt, dass jemand besser durch Bewegung lernt, warum dann nicht die Lektionen in einem Park abhalten?

Neurodivergente Menschen denken außerhalb der Box – also warum nicht auch beim Lernen um die gedankliche Ecke gehen?

Neurodivergente Menschen im Berufsleben

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Im Job kann Neurodivergenz ein zweischneidiges Schwert sein. Viele neurodivergente Menschen kämpfen mit sensiblen Reizen am Arbeitsplatz – der schreckliche Flur, in dem das Licht flackert, der Kollege, der schon zum zehnten Mal laut telefoniert, oder die unübersehbare Kaffeemaschine, die ständig piept. Solche Dinge können für neurodivergente Mitarbeitende eine enorme Herausforderung darstellen.

Drei Beispiele:

  • Ein Großraumbüro kann für jemanden mit Autismus eine Herausforderung darstellen, da es zu viele unkontrollierbare Reize gibt.
  • Für jemanden mit ADHS kann das ständige Wechseln zwischen Aufgaben in einem schnelllebigen Umfeld problematisch sein.
  • Menschen mit Dyslexie haben eventuell Schwierigkeiten, wenn viele schriftliche Informationen in kurzer Zeit verarbeitet werden müssen.

Problemlösungskompetenzen oder bringen eine Kreativität ein, die Projekte zum Erfolg führen kann:

  • Jemand mit ADHS kann beispielsweise in einer Brainstorming-Session eine beeindruckende Menge an Ideen einbringen, da sie oft assoziativ denken.
  • Menschen mit Autismus können in einer IT-Position außergewöhnlich detailorientiert arbeiten und komplexe Systeme analysieren, die anderen verborgen bleiben.

Doch das Geheimnis liegt in einem Arbeitsumfeld, das flexibel ist und die Bedürfnisse von Menschen aller neurologischen Typen respektiert.

Erfolgsstrategien und Best Practices im Arbeitsalltag

An dieser Stelle eine kurze Notiz für Arbeitgeber:innen: Die Investition in neurodivergente Talente kann sich richtig lohnen. Es braucht nur ein bisschen Anpassung. Ruhezonen, flexible Arbeitszeiten und klare Kommunikationsrichtlinien sind schon ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Dabei gibt es einige Strategien, die neurodivergenten Menschen helfen können, ihr volles Potenzial auszuschöpfen und Herausforderungen im Alltag zu meistern:

  1. Ruhige Bereiche schaffen: Lautstärke und Chaos können stressig sein. Es ist also immer hilfreich, ruhige Rückzugsorte zu finden, die das Wohlbefinden fördern.
  2. FlexiblesZeitmanagement: Neurodivergente Menschen haben oft unterschiedliche produktive Phasen. Ein flexibler Umgang mit Zeit kann ihnen helfen, ihre besten Ergebnisse zu erzielen.
  3. Klare Kommunikationswege: Klare und direkte Kommunikation ist entscheidend. Statt vage Anweisungen zu geben, ist es besser, präzise Erwartungen zu formulieren, um Missverständnisse zu vermeiden.
  4. Individuelle Anpassungen ermöglichen: Besondere Arbeitsmittel oder Hilfsmittel wie geräuschdämpfende Kopfhörer oder visuelle To-do-Listen erleichtern den Alltag massiv.

Ein weiterer Tipp: Feedback! Nicht jeder neurodivergente Mensch versteht unausgesprochene Erwartungen oder subtile Hinweise. Wenn man klar und direkt miteinander spricht, können Missverständnisse vermieden und der Erfolg gefördert werden.

Ein Beispiel: Statt vage Anweisungen wie "Bitte achte darauf, produktiver zu sein", wäre eine spezifischere Formulierung wie "Es wäre hilfreich, wenn du die Aufgaben bis Freitag abschließt und mir zwischendurch ein Update gibst" für viele neurodivergente Menschen einfacher zu verstehen und umzusetzen.

Wie Neurodivergenz das Berufs- und soziale Leben beeinflusst

Neurodivergente Menschen interagieren manchmal anders – sie können erheblich direkter sein oder in beruflichen und sozialen Situationen weniger konventionell auftreten. Das ist nicht unbedingt schlecht, aber es führt häufig zu Missverständnissen. Stell dir vor, ein Kollege sagt, dass er wirklich keine Lust auf dieses Meeting hat - und meint es auch tatsächlich so. Und nicht als Floskel für akuten Motivationsmangel. Das kann leicht irritieren, ist aber auch eine erfrischende Ehrlichkeit.

Andererseits können neurodivergente Menschen große Schwierigkeiten haben, nonverbale Signale zu verstehen. Ein Lächeln hier, ein Stirnrunzeln dort – für jemanden, der neurodivergent ist, kann das ein einziges Rätsel sein.

Im beruflichen Kontext kann dies zu Missverständnissen und Kommunikationsproblemen führen, besonders wenn Erwartungen nicht explizit ausgesprochen werden. Die gute Nachricht ist, dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist. Man kann lernen, wie der andere "tickt" – wenn beide Seiten dazu bereit sind.

Die Rolle von Unterstützung im Berufsleben

Unterstützung im Berufsleben ist wie das Geheimrezept für ein fantastisches Team – ohne sie wäre das Ganze einfach nur langweilig. Ein starkes Netzwerk aus Kolleg:innen und Mentor:innen kann der entscheidende Unterschied zwischen einem großartigen Arbeitstag und einem, an dem man sich am liebsten unter dem Schreibtisch verstecken möchte, sein.

Neurodivergente Menschen profitieren enorm von Kolleg:innen, die mit Verständnis statt Vorurteilen agieren und aktiv Unterstützung anbieten. Ein Arbeitsumfeld, das Vielfalt nicht nur toleriert, sondern tatsächlich fördert, hilft dabei, Isolation vorzubeugen und ein echtes Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen.

Praktische Unterstützung im Berufsalltag? Da gibt es eine Menge Optionen - die sich auch unkompliziert umsetzen lassen.

  • Wie wäre es mit geräuschreduzierenden Kopfhörern, damit man sich ganz in den Flow begeben kann?
  • Oder flexiblen Arbeitszeiten, die es ermöglichen, in der produktivsten Phase des Tages wirklich Gas zu geben?
  • Vielleicht sogar die Möglichkeit, früher zu Offsites anzureisen, um sich an die neue Umgebung zu gewöhnen, bevor der ganze Trubel losgeht.

Solche Maßnahmen helfen neurodivergenten Menschen dabei, ihre Stärken voll auszuspielen und sorgen für echtes Teamtwork. Und davon profitieren am Ende wirklich alle.

Sollte ich mit meinen vorgesetzten Personen über Neurodiversität sprechen?

Die Entscheidung, ob man im Berufsleben offen über die eigene Neurodiversität spricht, ist sehr individuell. Es gibt Vor- und Nachteile, die sorgfältig abgewogen werden sollten. Offen über Neurodiversität zu sprechen, kann helfen, Verständnis und passende Unterstützung zu erhalten.

Wenn dein Unternehmen über deine speziellen Bedürfnisse Bescheid weiß, können Anpassungen am Arbeitsplatz vorgenommen werden, die dir helfen, dein volles Potenzial auszuschöpfen – sei es durch flexible Arbeitszeiten, spezielle Tools oder Rückzugsorte.

Es kommt auf dich an

Auf der anderen Seite gibt es immer noch Vorurteile und Unwissenheit über neurodivergente Bedingungen, die dazu führen können, dass man falsch eingeschätzt wird. Wichtig ist es, dass du dich sicher und bereit fühlst, über deine Neurodiversität zu sprechen.

Überlege dir, wie dein Umfeld auf solche Informationen reagieren könnte und ob es bereits Beispiele für eine positive Unterstützung neurodivergenter Kolleg:innen gibt. Ein offenes Gespräch kann oft Türen öffnen – manchmal aber ist es auch in Ordnung, die Tür einfach geschlossen zu lassen, wenn es sich für dich besser anfühlt.

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Fazit

Akzeptanz und Inklusion sind der Schlüssel zu einem wirklich vielfältigen und unterstützenden Umfeld, das den Namen auch verdient. Es geht nicht darum, neurodivergente Menschen anzupassen oder in eine bestimmte Schablone zu pressen, nur weil sie uns vielleicht vertrauter ist. Sondern darum, die einzigartigen Stärken jedes Einzelnen zu erkennen und zu fördern.

Ein inklusives Umfeld schafft Systeme, die alle unterstützen – sei es im Studium, Beruf oder im sozialen Leben. Dabei geht es darum, Unterschiede nicht zu verstecken, sondern sie zu feiern und als Bereicherung zu sehen. Die Herausforderung besteht darin, Strukturen zu schaffen, die diese Vielfalt fördern und nutzen.

Also, die nächste Aufgabe für dich: Wenn du auf jemanden triffst, der anders tickt als du, halte inne und frage dich: Was kann ich von dieser Person lernen? Und wenn du selbst neurodivergent bist, frage dich: Was macht mich einzigartig und wie kann ich genau das nutzen, um in meinem Job voranzukommen? Die Antwort könnte euch beide überraschen.